Heilsames Singen

Zitat

Das macht Singen mit unserer Gesundheit

Singen sorgt nicht nur für gute Laune, sondern fördert auch die Gesundheit. Verrückt: Die Herzen von Chorsängerinnen und Chorsängern schlagen oft in einem Takt.

Angela Stoll

13.05.2023, 18:30 Uhr

 

Musiktherapeut Wolfgang Bossinger aus dem bayerischen Syrgenstein erinnert sich noch gut an den Kriminalkommissar, der nicht singen wollte, weil er dachte, dass er es nicht könne. Er nahm dennoch vor einigen Jahren an einem von Bossingers Seminaren zu „heilsamem Singen“ teil. Der Kommissar hatte als Kind in Musik mal eine glatte Sechs bekommen. Im nächsten Jahr stellte ihm sein Lehrer eine Vier in Aussicht – aber nur unter der Bedingung, sich in die letzte Reihe zu setzen und niemals mitzusingen.

Daher war der Mann der festen Überzeugung, komplett unmusikalisch zu sein. Nur aus Liebe zu seiner Freundin, die eine Ausbildung zur Singleiterin machte, nahm er an dem Seminar teil. In der Gruppe wurde er mutiger, traute sich schließlich sogar ein Solo vor 40 Leuten zu: Er machte seiner Liebsten einen musikalischen Heiratsantrag. „Sie hat dann auch Ja gesagt“, erzählt Bossinger. „Der Mann war überglücklich.“

Das musikalische innere Kind

Der Kommissar freute sich nicht nur über die Annahme seines Antrags, sondern auch darüber, dass er seine Stimme regelrecht wiedergefunden hatte. „In der Musiktherapie gibt es das schöne Bild, dass in jedem von uns ein musikalisches inneres Kind lebt, das singen, musizieren, lachen und tanzen möchte“, sagt Bossinger. Dieses Kind in einem wieder zum Leben zu erwecken lohnt sich – denn Singen hat vielfältige positive Auswirkungen auf Körper und Psyche. „Menschen, die viel singen, sind ausgeglichener, seltener depressiv und besser trainiert“, fasst der Therapeut zusammen.

 Zunächst einmal wirkt sich Singen, in welcher Form auch immer, positiv auf die Lungenfunktion aus. „Singen ist Atemtraining“, bestätigt Professor Bernhard Richter vom Freiburger Institut für Musikermedizin. Wer längere Strophen singt, benötigt dafür ausreichend Luft, muss also lernen, vertieft zu atmen, was wiederum die Durchblutung der Organe verbessert. Tatsächlich deuten Studien darauf hin, dass auch Menschen mit chronischen Lungenkrankheiten wie COPD und Asthma vom Singen profitieren. Wissenschaftler des London Imperial College kamen nach der Analyse mehrerer Studien zu dem Schluss, dass Singen die Lebensqualität lungenkranker Menschen steigert. Sie fanden auch Hinweise darauf, dass sich einzelne Lungenfunktionsparameter verbesserten. Auch wenn man sich meist wenig bewegt, fordert Singen den Körper in dem Maße wie leichte sportliche Betätigung: „Der ganze Körper erbringt eine Hochleistung. Das stärkt das Herz-Kreislauf-System. Profisänger sind daher fit wie Dauerläufer“, sagt Bossinger.

Herzen schlagen gleich

Zudem lieferte eine Studie des Musikwissenschaftlers Gunter Kreutz, heute Professor an der Universität Oldenburg, bereits vor Jahren Hinweise darauf, dass Singen auch das Immunsystem auf Trab bringt: Dabei wurden Mitgliedern eines Laienchors vor und nach einer Übungsstunde Speichelproben entnommen. Nach dem Singen waren die Werte von Immunglobulin A deutlich erhöht. Dieser Stoff hilft, Infektionen der oberen Atemwege abzuwehren. Doch der diesbezüglich gute Ruf von Chören ist gewaltig ins Wanken geraten, als zu Beginn der Pandemie von Corona-Ausbrüchen nach gemeinsamen Proben berichtet worden war. „Dadurch hat Singen leider ein schlechtes Image bekommen“, sagt Bossinger. Inzwischen habe sich die Lage entspannt und die Nachfrage nach Singangeboten sei enorm gestiegen. Viele Menschen, meint er, sehnen sich nach der Isolation in den ersten Corona-Jahren nach Gemeinschaftserlebnissen.

Einer der wichtigsten Aspekte beim Singen ist für Bossinger denn auch der soziale: Durch gemeinsames Singen entsteht Verbundenheit. An einem kleinen Experiment konnten Forscher der schwedischen Universität Göteborg zeigen, dass sogar die Herzen von Chormitgliedern gleich schlagen. Sie untersuchten die Herzfrequenz der Sänger und Sängerinnen in Aktion und stellten fest, dass sich ihr Herzschlag als Folge koordinierten Atmens nach einigen Takten synchronisierte.

Körper schüttet Cannabinoide aus

Gerade für Randgruppen der Gesellschaft, etwa für Obdachlose, Strafgefangene oder chronisch kranke Menschen, können gemeinsame Proben besonders wohltuend sein. Im Jahr 2009 gründete Bossinger mit seiner Frau Katharina die Initiative Singende Krankenhäuser, die sich für Singangebote in Kliniken, Altenheimen und Hospizen engagiert. „Es ist faszinierend, wenn zum Beispiel Patienten mit chronischen Schmerzen berichten, dass sie beim Singen völlig schmerzfrei sind“, berichtet er von Erfahrungen in einer Schmerzklinik, die entsprechende Angebote macht.

Eine Rolle könnte dabei spielen, dass beim Singen offenbar körpereigene Cannabinoide ausgeschüttet werden. Immer wieder berichten Chorsängerinnen und Chorsänger, dass sie das Proben entspannt und glücklich stimmt. Dass sich dabei tatsächlich entsprechende Biomarker im Blut ändern, belegt ein unterhaltsames wissenschaftliches Experiment: Dafür ließ die Physiologin Saoirse O’Sullivan von der Universität Nottingham Laiensänger jeweils eine halbe Stunde zusammen tanzen, Fahrrad fahren, singen sowie Bedienungsanleitungen lesen und untersuchte ihr Blut vor und nach den Aktivitäten. Nach dem Singen stellte sie bei den Teilnehmenden die weitaus stärkste Ausschüttung körpereigener Cannabinoide fest, gefolgt von Tanzen und Radfahren. Dagegen veränderten sich die Werte beim Studieren von Anleitungen kaum – vielmehr wurde dabei schlechte Laune beobachtet.

Lieder transportieren Emotionen

Auch wer allein unter der Dusche oder im Auto singt, profitiert von den positiven Effekten des Singens. „Emotionen Ausdruck zu verleihen tut gut“, sagt Musikermediziner Richter. Das kann auch Trauer sein – nicht umsonst haben Klagelieder in vielen Kulturen eine lange Tradition. Viele Lieder sind mit starken Emotionen besetzt und wecken Erinnerungen.

Alzheimerpatienten und -patientinnen, die sich an kaum noch etwas erinnern, können oft Melodien, häufig samt Texten, erstaunlich gut abrufen. „Lieder von früher können für sie ein Türöffner sein und den Zugang zur eigenen Kindheit eröffnen“, ist Richter überzeugt. Das liegt daran, dass Musik in einem Bereich des Gehirns gespeichert ist, der von der Krankheit lange verschont bleibt.

Auch bei anderen neurologischen Erkrankungen profitieren die Betroffenen vom Singen, allen voran beim Verlust der Sprache infolge einer Hirnschädigung (Aphasie). In schweren Fällen hat sich insbesondere die „Melodische Intonationstherapie“ bewährt: Dabei wird versucht, Patientinnen und Patienten durch Singen und rhythmisches Klopfen zum Mitsingen und -sprechen zu bringen. Erstaunlicherweise können manchmal auch Aphasiker, die sich kaum äußern können, bekannte Liedtexte singen. Das liegt daran, dass vertraute Floskeln in der rechten, intakten Hirnhälfte verankert sind – bewusste Sprache dagegen in der linken, die bei der Störung meist geschädigt ist. Daher gibt es in Deutschland auch mehrere Chöre für Aphasikerinnen und Aphasiker.

Als Mitglied des Vereins “Singende Krankenhäuser e.V.” unterstütze und arbeite ich in einem internationalen Netzwerk zur Förderung des Singens in Gesundheitseinrichtungen.

Norbert Knabben